Familiengeschichte

Kleiner Exkurs zur Geschichte meiner Familie

Etwa 1938, also kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, kehrten meine Großeltern mit ihrer siebenjährigen Tochter aus New York zurück, wohin sie in den frühen 1920er Jahren ausgewandert waren. Kennengelernt hatten sich meine Großeltern erst, als beide schon eine Weile in New York lebten. Damals waren die USA noch das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ – was mir in diesem Moment noch einmal mein Entsetzen darüber in Erinnerung ruft, als ich den unseligen US-Präsidenten Trump vergangenes Jahr (2020) einmal im TV sagen hörte: „The American Dream is dead!“ Ich glaube, daran ist ein gewisser Teil leider Wahrheit geworden – nicht zuletzt durch den demagogischen Einfluß dieses schwer neurotischen Egomanen. In der Zeit jedenfalls, in der meine Großeltern auswanderten, war der amerikanische Traum jedenfalls noch sehr lebendig.

Meine Urgroßmutter Wantzlöben mit ihren beiden Töchtern Mia (links; meine Großmutter) und Elsa (rechts), ca. 1925.

Meine Urgroßmutter hatte zwei uneheliche Töchter. Die jüngere von beiden war meine Großmutter Mia (links im Bild), die ältere hieß Elsa. Uneheliche Kinder zu haben war im Deutschland der Kaiserzeit für einen Kindesvater zwar zumindest problematisch, für die Mutter samt Kinder jedoch eine schwere gesellschaftliche Schande. Meine Urgroßmutter – mit ihren zwei Töchtern nach wie vor chancenlos ledig – soll in ihrer Art wohl sowieso etwas unselbständig und antriebsarm gewesen sein und es wäre insofern anzunehmen, daß sie eben davon überzeugt war, einen „Versorger“ finden zu müssen. Nun war diese vorwiegend pragmatisch orientierte Art der Partnersuche zu ihrer Zeit für Frauen wie für Männer sowieso nichts weniger als üblich; eine ⇒Liebesheirat war ein Luxus, der weit eher in biedermeierlichen Romanen vorkam als in der Realität. Leider hatte sie mit keiner der Konzeptionen viel Glück gehabt und konnte als einzige Rettung vor dem drohenden Elend eigentlich nur auswandern. Dazu brauchte man natürlich auch wieder Geld. Der erste Kindsvater war nicht mehr auffindbar, aber sie hatte Glück im Unglück, denn sie fand tatsächlich bald einen neuen Ehepartner, den sie sogar noch aus der Schulzeit kannte. Herr Kramer war Malermeister geworden und gestand ihr, bereits in der Schulzeit in sie verliebt gewesen zu sein, wie schön. Außerdem wollte er ebenfalls nach Amerika auswandern. Gesagt, getan, die Beiden schifften sich 1920 ein. Herr Kramer war übrigens auch noch anderweitig verheiratet, aber er gab bei der Überfahrt meine Urgroßmutter bereits als seine Frau aus – was anscheinend weder auf dem Schiff noch nach der Ankunft in New York irgendein Problem darstellte. Scheidung und Heirat wurden in New York nachgeholt. Die beiden unehelichen Töchter sollten nachkommen, wenn man sich in New York etwas konsolidiert habe. Elsa, die Ältere, war jedoch ihrerseits noch verheiratet und wollte sich vor ihrer Auswanderung erst einmal scheiden lassen; Ordnung mußte ja sein. Die Jüngere, also meine Omi, blieb zunächst noch für einige Zeit bei ihrem leiblichen Vater. Dann war es so weit und nun, im Jahr 1922 mit 14 Jahren, ging auch sie auf die große Überfahrt nach Amerika. Sie reiste ganz allein. Das war bestimmt ein großes Abenteuer.

Mein Urgroßvater Ernst von Kalkum-Lohausen (1869 - 1936) aus Elberfeld war zunächst Konzertpianist. Später ging er nach Halle/S. um Architektur zu studieren. Als Baumeister hatte er den Adelstitel abgelegt und nannte sich nur noch Ernst Lohausen. Seine Tochter war meine Großmutter Mia Lohausen (1908 - 2002).

Ihr Vater Ernst von Kalkum-Lohausen stammte ursprünglich aus Elberfeld und war war zunächst Konzertpianist. Er war ein begabter und studierter Musiker, der seine finanziell allerdings wenig erfolgreiche Pianistenlaufbahn aufgab, um auf Drängen und mithilfe der finanziellen Unterstützung seiner begüterten Ehefrau in Halle ein Studium der Architektur anzuschließen. Dadurch hinderte sie ihn gleichzeitig auch sehr nachhaltig daran, sich von ihr scheiden zu lassen und meine Urgroßmutter zu heiraten – was er ursprünglich nämlich vorgehabt hatte. Das Vorhaben gedieh daher nicht weiter als eben vor allem in Form und Person meine Großmutter. Als frischgebackener Baumeister (der seinen Adelstitel inzwischen verkauft hatte und fortan als Ernst Lohausen firmierte) war er jedoch bald recht erfolgreich und muß wohl in seinen späteren Jahren ein reicher Mann gewesen sein. Es ist überliefert, daß er u. a. in Halle einige mehr oder weniger spektakuläre Bauwerke realisierte – unter anderem ein großes Hotel; er spielte wohl auch noch viel Klavier, blieb ansonsten seiner Tochter Mia recht verbunden und schrieb regelmäßig Briefe. Er kam sogar ein Mal nach Amerika, um sie zu besuchen! 1936 verstarb mein Hallenser Urgroßvater und hinterließ seiner leiblichen Tochter das Klavier, das sie sicherlich noch von früher kannte, sowie einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Vermögens.

Dieses Klavier kam später auf mich, wie man wohl so sagt, denn meine Großmutter starb 2002 mit 94 Jahren und vererbte es mir. Es war ein äußerlich recht gut erhaltenes, riesiges und ausgesprochen schweres Bechstein-Klavier aus den 1870er Jahren mit einer heutzutage veralteten sog. Oberdämpfer-Technik, andererseits schön gedrechselten Elementen, reichverzierten Kerzenleuchtern und einem recht gediegen geschnitzten Relief in Gestalt eines Beethoven-Portraits auf der Vorderseite. Meine Omi war ebenfalls sehr musikalisch, hatte vor der Auswanderung von ihrem Vater höchstwahrscheinlich auf eben diesem Klavier einigen Unterricht bekommen und spielte wohl eine Zeitlang recht gut. Es war allerdings nach gut 140 Jahren weder in einem vernünftigen Kostenrahmen restaurierbar, noch konnte es technisch überhaupt auf längere Sicht ausreichend spielbar gemacht werden – und ich habe es nun schon lange nicht mehr. Aber das wäre wieder eine andere Geschichte.

Mein Großvater stammte aus einer vielköpfigen Familie im Oberharzdorf Benneckenstein, wo sein Vater als Schreinermeister kurz nach dem Ersten Weltkrieg kaum noch mehr als Kleiderbügel herstellen und an Hausierer verkaufen konnte. Überall haben die Menschen gehungert – und zwei Söhne waren bereits nach Amerika ausgewandert. Mein Großvater hatte den Tischlerberuf von seinem Vater erlernt und arbeitete in der Werkstatt mit. Nach einigem Zögern folgte seinen Brüdern 1926 nach New York (s. auch den Text „Überfahrt” in ⇒“Jeschichten …„) und fand dort bald eine Anstellung in einer Möbelschreinerei. Durch meine Mutter ist überliefert, daß der Inhaber der Schreinerei bevorzugt Deutsche einstellte, die für ihren Fleiß bekannt waren. Später wechselte mein Großvater zur Möbelhandlung eines Herrn Katz, eines Verwandten des bis heute berühmten Restaurants und Delikatessengeschäfts (s. ggf. auch ⇒„Katz´s Delicatessen“). Sein Chef versprach meinem Großvater, ihn jederzeit im Möbelhaus wieder einzustellen, wenn er nach der Erbschaftsgeschichte wieder nach New York zurückkäme – wie es ja anfangs auch geplant war. Dies ist um so bemerkenswerter, als es in der jüdischen Bevölkerung, deren Prozentsatz in New York schon seit langem besonders hoch lag, im Laufe der 1930er Jahre wachsende Ressentiments gegen deutsche Einwanderer gab. Manche jüdische Arbeitgeber stellten keine Deutschen mehr ein oder entließen sie sogar.
Im Grunde waren meine beiden Großeltern also nicht unterschiedlich zu dem, was man heute „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennt. Selbstverständlich gab es auch seinerzeit tausende Flüchtlinge ihrer Art. Ich meine, es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß die heutige Lage in den Ländern, aus denen die Menschen heutzutage auswandern wollen, irgendwie wesentlich anders wäre – vielmehr ist sie oft schlimmer. Allerdings gab es in den USA damals anscheinend noch mehr Platz für Einwanderer – und wohl noch nicht ganz so negative Ansichten in der Bevölkerung sowie etwas weniger restriktive gesetzliche Bestimmungen zur Einwanderung. Heutzutage scheint fast überall so gut wie alles mehr oder weniger überlaufen zu sein. Aber das wäre nun einer ganz anderen Diskussion vorbehalten.

Man mußte jedenfalls schon sehr, sehr triftige Gründe dafür haben, in den späten 1930er Jahren aus den USA nach Nazi-Deutschland zurückzureisen. An politischer Bildung besaßen die Beiden meines – durch meine Mutter überlieferten – Wissens nicht eben viel.

Mein Großvater Otto Wedler (1901 - 1974) und meine Großmutter Mia Wedler, geb. Lohausen (1908 - 2002) in New York. Das Bild stammt vermutlich aus den frühen 1930er Jahren.

Selbst der Umstand, daß meine Großmutter eine von den Nazis so kategorisierte „Vierteljüdin“ war, konnte die Beiden nicht von der Reise abhalten. Immerhin blieb dieses Thema ohne Auswirkungen, da sich in der verschlafenen Harz-Provinz offenbar niemand eingehender dafür interessiert hat. Das lag sicherlich nicht zuletzt daran, daß mein Großvater im Ort Juliushütte und später in Bad Lauterberg als Betriebsleiter der Holzmehlfabrik des Unternehmers A. Trinks arbeitete, deren Produktion als „kriegswichtig“ eingestuft war. Das bedeutete wohl einen recht effektiven Schutz für ihn und seine Familie. Dem Fabrikanten verschaffte es wiederum die Macht, meinen Großvater mit vielen Überstunden bei schamloser Unterbezahlung auszubeuten. Mein Großvater wäre ja, falls er sich nicht gefügt hätte, sofort in die Wehrmacht eingezogen worden.
Übrigens wurde im Frühsommer 1944 auf einem kleineren Teil des Betriebsgeländes der Juliushütte und einem größeren Teil des benachbarten Betriebsgeländes der stillgelegten Gipsfabrik Kohlmann das KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora eingerichtet. Das Lager wurde zunächst als Mittelbau II bezeichnet.
Meine Mutter hat zu diesem Thema, angeregt durch eine Fernsehsendung im NDR vom 06.06.2019 einen Text mit einem Erinnerungsprotokoll geschrieben, der hier als Unter-Seite dieser Webseite erreichbar ist („Informationen zum KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte“).
In meiner Familie ist überliefert, daß zwei Häftlinge zur Arbeit in der Holzmehlfabrik abkommandiert worden waren. Mein Großvater erwarb sich bei den KZ-Häftlingen einen Ruf als Wohltäter – aber leider ist kaum etwas an Details darüber bekannt. Aus Andeutungen konnte man entnehmen, daß mein Großvater bei der streng verbotenen Beschaffung von Arznei- und Lebensmitteln behilflich war. Er hat aber nie wirklich davon erzählt.
In meiner Familie wurde zudem berichtet, daß Firmengründer Armin Trinks 1952 auf seinem Sterbebett meinem Großvater das Versprechen abnehmen konnte, daß der auch weiterhin dem Betrieb treu bleibe und sich darum kümmern solle. Das dürfte ein Grund gewesen sein, warum mein Großvater trotz sich viel besserer Angebote bis zu seiner Pensionierung nie entschließen mochte, den Arbeitgeber zu wechseln.
So war er, mein Opa.

Der Rückkehrgrund nach Deutschland 1938 bestand in erster Linie in der Erbschaft von seiten des Hallenser Baumeisters an seine leibliche, uneheliche Tochter, meine Großmutter. Die internationalen politischen Verhältnisse waren bereits sehr zugespitzt und meine Großmutter hätte die Erbschaft von den USA aus nicht antreten können, denn es galt als sicher, daß eine Devisenausfuhr aus Nazi-Deutschland in dieser Höhe nicht mehr genehmigt werden würde. Es war in der Tat eine nicht unbedeutende Summe – ungefähr so viel, daß man wohl zwei oder drei Häuser davon hätte kaufen können. Eines wurde dann immerhin gekauft, auch ein Auto – ganz gemäß übrigens dem Lebensstandard, den meine Großeltern aus New York gewohnt waren.

Hier muß ein kleiner Extra-Exkurs einen Platz bekommen – denn es gibt noch die kleine Geschichte um Großvaters erstes Auto in Amerika. Meine Mutter wußte nämlich zu berichten, daß er einem Nachbarn einen gebrauchten „Hudson“ abgekauft hatte, der einen so erstaunlich starken Motor hatte, daß mein Großvater sich einen Spaß daraus machen konnte, zum Beispiel an Ampeln, die auf „grün“ schalteten, prompt allen anderen Autos davonzufahren. Der „Hudson“ hatte eine solche Beschleunigung, daß meine Mutter sich einen Spaß daraus machte, sich dabei übertrieben nach hinten in den Sitz fallen zu lassen und die Füße in die Luft zu werfen, sodaß sie beinahe die Innenbeleuchtung unter dem Wagendach berührte. Das klingt nicht nach Sicherheitsgurten, nicht wahr? Wenn man heute einmal im Internet nachschaut, was die Firma „Hudson“ zu der Zeit für Autos gebaut hat, kommt man in der Tat zu dem Ergebnis, daß es sich um einen ziemlich rassigen Achtzylinder gehandelt haben könnte. Das muß jedenfalls ein recht überdurchschnittliches Auto gewesen sein.
Später hatte er aber offenbar einen ganz anderen Fahrstil. Natürlich boten seine lahmen Opel-Autos sowieso nicht diese Möglichkeiten, aber in Sachsa und im Harz mochte er so oder so kaum jemals noch einmal schneller als 60 km/h fahren. Er fuhr wirklich immer ungewöhnlich langsam umher und war sicherlich für andere Fahrer oftmals ein rechtes Verkehrshindernis. Ich erinnere mich daran, daß uns einmal zwischen Wieda und Sachsa ein Auto recht zügig überholte und er in einem leicht entrüsteten Ton sagte: „Du meine Güte, der hat bestimmt 80 Sachen drauf“. So schnell fuhr Opa niemals. Auch mein Vater sprach abfällig über den schnecken-langsamen Fahrstil seines Schwiegervaters.

Sicherlich wollte mein Großvater, als er in Deutschland ein Auto kaufte, außer damit an den amerikanischen Lebensstandard anzuknüpfen, auch seiner Verwandtschaft zeigen, daß er es zu etwas gebracht hatte. Daß nicht er, sondern seine Frau die Erbschaft gemacht hatte, spielte eine untergeordnete Rolle; sie hatte wenig Mitspracherecht darüber, was mit dem Geld geschehen solle. Der Weg zu Frauenrechten und zu Emanzipation war noch ein ordentliches Stückchen länger als heutzutage. An das Autofahren war meine Großmutter aus ihrem US-amerikanischen Lebensstandard zwar als Beifahrerin schon gewohnt, aber das genügte ihr nicht: Noch in New York hatte sie auch ihren Führerschein gemacht – allerdings stickum heimlich, da sie sehr wohl wußte, daß ihr Ehemann ihr das niemals erlaubt hätte. Das Auto war übrigens ein „Wanderer“- der zum Leidwesen der Familie in den späteren Kriegsjahren von flüchtenden Wehrmachtssoldaten gestohlen wurde. Der Rest der Erbschaft ging in den Flammen irgendwelcher Aktien und Wertpapieranlagen auf, die nach dem Krieg eben plötzlich keinen Wert mehr hatten.
Natürlich spielte für die Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland auch die starke Heimatverbundenheit meines Großvaters eine bedeutende Rolle. Er war in New York nie angewurzelt gewesen, sein Englisch war fürchterlich und die Erbschaft war für ihn sicherlich eine schicksalhafte Fügung des Himmels gewesen. Meine Großmutter wäre freilich lieber in New York geblieben – oder wenigstens dorthin zurückgekehrt. Das war zunächst auch offiziell so geplant. Aber ihre Mutter, die samt der älteren Schwester in New York verbleiben würde, wußte es von Anfang an: die Würfel waren gefallen und sie würde ihre Tochter und ihre kleine Enkelin Ingeborg nicht wiedersehen. So kam es auch und das war natürlich sehr traurig.

Die Überfahrt nach Deutschland war im Januar 1938. Im ersten Jahr wohnte die kleine Familie bei den Eltern meines Großvaters in Benneckenstein, dann sollte ebendort ein neues Haus gebaut werden. Die Verhandlungen um den Bauplatz liefen schon. Aber meine Großmutter wünschte, daß meine Mutter später auf ein Gymnasium gehen solle, und das gab es in Benneckenstein nun mal nicht. Damit kam als neuer Wohnort nur das knapp 20 Kilometer entfernte Bad Sachsa in Frage. Das Äußerste ihres Mitspracherechtes war damit allerdings erreicht. Immerhin hat sie mit ihrer Intervention eine entscheidende Weiche gestellt. Sehr wahrscheinlich hatte ihr Veto zum Hausbau in Benneckenstein auch noch den zusätzlichen Hintergrund, daß sie sich der Enge des Lebens unter der zahlreichen Verwandtschaft ihres Mannes in diesem Oberharzdorf bewußt geworden war und einen Ausweg suchte. Ihr Veto und die daraus folgende Entscheidung war allerdings von größerer Tragweite, als sie es zu der Zeit – 1939 – wissen konnte. Nach dem Krieg gab es die Grenzziehung zwischen den alliierten Besatzungszonen und Bad Sachsa gehörte gerade eben noch zum Gebiet der West-Alliierten, anders als Benneckenstein, das sich plötzlich „im Osten“ wiederfand – und das sollte noch eine besonders bedeutende Rolle spielen.

An diesem Punkt einmal zwischendurch über mein Schicksal sinnierend würde ich sagen: das war knapp. Und zwar eigentlich gleich zweimal. Erst hätte ich vielleicht ein „Ami“ werden können, dann DDR-Bürger. Stattdessen bin ich in der BRD aufgewachsen – so weit, so gut.
Wenn ich weiterhin sinnierend betrachte, was in meinem westdeutschen Leben besondere, zentrale Bedeutung hatte, so war es ganz bestimmt die Musik. Die kam als Talent von meinen Vorfahren ja tatsächlich von allen Seiten. Zentrale Bedeutung bekam für mich der Jazz – ein US-amerikanischer Musikstil, wie man ja weiß. Übrigens, nebenbei bemerkt, die einzige Musikform, der originär auf dem Boden der USA entstanden ist – als eine Erfindung der Afrikaner, die als Sklaven dorthin verschleppt waren und ihre traditionelle Musik mit der Musik der Weißen vermischten, wie sie nun in Amerika zu hören war. Ich bin Profi-Jazzmusiker geworden – als Kontrabassist und E-Bassist.
Auch Sprache und Literatur hat in meinem Leben eine hohe Bedeutung. Ich lernte früh lesen und entwickelte eine große Liebe zur Literatur. Das begann damit, daß ich als Siebenjähriger mit einer Scharlach-Infektion für knapp 4 Wochen in häuslicher Quarantäne bleiben mußte. Das war schrecklich. Vor allem Bücher waren meine Rettung. In der Schule waren wir erst noch am Beginn mit dem Lesen- und Schreibenlernen, aber eine Basis war schon gelegt und den Rest konnte ich schnell selbst lernen.
Über zwanzig Jahre später habe ich eine Familie gegründet – mit einer Frau aus Polen. Auch hier kam mein Bezug zu Sprache und Sprachen wieder sehr zum Tragen, denn ich lernte bald, fließend und akzentfrei Polnisch zu sprechen. Damit hatte ich zwar das hinter der Grenze abgetrennte Ostdeutschland, wenn man so will, zunächst übersprungen, aber es entwickelte sich dann kurz nach der Wende, in meinem Fall gegen Anfang der 1990er Jahre, doch noch ein für mich wichtiger Bezug: Mein Faible für das Zweiradfahren erwachte nach einer größeren Pause allmählich wieder, indem ich zu einem treuen Fan von motorisierten Zweirädern der Marke „Simson“ wurde – und zunächst zum `Schwalbe´-Fahrer.

Simson "Shwalbe" KR 51/2 L, - Baujahr 1981 - aus dem Besitz des Autors.

Darüber schreibe ich in diesem Projekt noch einiges mehr – aber unter der anderen Rubrik „Born To Be Wild“.
So bin ich zwar weder in „Amerika“ noch „im Osten“ zur Welt gekommen, aber ich kann nicht umhin, zu interpretieren: Was in meinem Leben ganz besondere Bedeutung hatte oder auch entwickelte, hat durchaus und sehr viel mit Beidem zu tun.
Es sollten noch knapp 20 Jahre vergehen, bis ich das Licht der Welt erblickte, aber die Weichen wurden endgültig gestellt, als mein Opa mit seinem Bruder im Frühjahr 1939 von Benneckenstein hinüber „nah de Sasse“ (nach Bad Sachsa) ging und ein Haus seiner Wahl kaufte. Meine Omi hatte ja ihren Teil zu der Entscheidung beigetragen und wurde nun nicht mehr gefragt.

Dann brach der Krieg aus, der allerdings an Bad Sachsa relativ glimpflich vorüberging.
Mein Opa arbeitete in einem „kriegswichtigen“ Betrieb und die in New York verbliebene Urgroßmutter sowie Ernst und Edmund, zwei Brüder meines Großvaters, deren einer mit einer Bäckerei, der andere mit einem Restaurant in New York erfolgreich geworden war, schickten sogar CARE-Pakete.
Darin waren jedoch hin und wieder Lebensmittel, die man in Deutschland noch nicht kannte und mitunter auch nicht vertrug. Mein Vater bekam dies zu spüren, als er seinen ersten Dosen-Mais vom Balkon aus im Bogen … nun, er hat mir das selbst so erzählt.
Wie kam überhaupt mein Vater in den Genuß von Lebensmitteln aus amerikanischen CARE-Paketen? Nun, Bad Sachsa war ein recht kleines Städtchen und meine Großeltern wohnten am Rande auf einer Anhöhe, gerade einmal drei Sträßchen weit voneinander entfernt. Meine Eltern kannten sich natürlich und waren noch deutlich unter zwanzig, als sie sich ineinander verliebten. Das war noch mitten im Krieg und meine unsichtbare Wenigkeit mußte bis zu ihrem ersten Erscheinen noch viele Jahre abwarten.

Einstweilen rückte die russische Armee auf wenige Kilometer nahe heran – unter anderem bis nach Benneckenstein und Umgebung. Wie schon weiter oben gesagt: man hatte Glück, daß Bad Sachsa bereits zum Besatzungsgebiet der West-Allierten gehörte. Kein Mensch konnte damals wissen, daß es ein paar Jahre später eine Landesgrenze zwischen den Besatzungsgebieten und somit auch zwischen den beiden Orten geben würde – und was für eine. Die neue DDR-Grenze verlief in der Tat knapp vor Benneckenstein.
Mein Großvater hat seinen geliebten Heimatort nach dieser Grenzziehung nie wieder gesehen. Darunter hat er den Rest seines Lebens gelitten.
Seine Ehefrau, also meine „Omi“ genannte Großmutter kam, wie schon erwähnt, aus Halle, sprach von Haus aus keine Mundart, verstand das „Benneckenschteinsche Platt“ natürlich erst recht nicht und wollte davon auch nichts wissen. In der Familie in Sachsa wurde also ausschließlich „Hochdeutsch“ gesprochen.

Meine Mutter und Terrier "Prinz", etwa 1948. Sie erzählte zu diesem Photo, daß sie den Prinzen selbst auf den Tisch gesetzt habe - wenn ich es recht erinner: um ihn ein bißchen zu veräppeln.

Meine Mutter (auf dem nebenstehenden Bild mit etwa 18 Jahren) war mit Englisch und dem zu Hause gesprochenen Deutsch zweisprachig aufgewachsen, konnte sich in der neuen Heimat zu Anfang schwer zurechtfinden, jedoch immerhin wenigstens sofort mitreden. Man kann sich ja kaum einen größeren Gegensatz als New York und Benneckenstein vorstellen – für ein knapp achtjähriges Kind war das sicher nicht leicht gewesen. Sie begann dort, wieder zur Schule zu gehen, lernte wohl schnell, die Mundart zu verstehen, jedoch nur wenig, sie auch zu sprechen. Immerhin schrieb sie trotzdem später einen im Benneckensteinschen Plattdeutsch verfaßten Text über diese Zeit, betitelt „Fremd in de Schaule“ (s. auch diesen ⇒Link zu „Jeschichten …“).
Das Verstehenlernen einer Sprache, ohne sie zu sprechen, erinnert mich ein wenig an meine jüngere Tochter Laura, die Polnisch versteht, aber kaum spricht. Aber das wäre eine Geschichte für ein anderes Kapitel, mal sehen.

Die Familie meines Vaters war aus ganz anderen Gegenden nach Sachsa gekommen: mein frühverstorbener Großvater – den ich daher nicht kennenlernen konnte – aus der Region um Plauen, meine Großmutter aus Essen. Wir haben sie „Oma“ genannt, natürlich zur Unterscheidung von „Omi“. Auch die um zehn Jahre ältere Schwester meines Vaters, die wie meine Mutter zufällig auch Ingeborg hieß, war nach Jahren in Düsseldorf als Gattin eines „Henkel“-Managers mit diesem wieder dorthin zurückgekehrt. Ich bin ebenfalls in Sachsa geboren, allerdings sind meine Eltern kurz darauf über kleine Zwischenstationen nach Goslar übergesiedelt. Mein Vater hatte dort eine Anstellung als Lehrer für Deutsch und Musik an einem Gymnasium gefunden. Wir waren aber sehr oft und regelmäßig bei allen drei Großeltern in Sachsa. Es war eigentlich nicht weit – man mußte nur einmal den Harz von Nord nach Süd überqueren – eine Strecke von etwa 60 Kilometern.
In der Schule habe ich mal gelernt, daß man sich den Harz auf der Landkarte ganz gut als einen von der Seite abgebildeten Holzschuh vorstellen kan – die DDR-Grenze ging etwa in der Mitte von oben nach unten durch. Ein Stückchen links davon und an der Oberkante liegt Goslar und dito an der Südkante, sozusagen an der Sohle des Holzschuhs, liegt Bad Sachsa.
Die Straßenverhältnisse waren damals noch teils recht schwierig, denn es gab duch die strengen Oberharzer Winter jede Menge Schlaglöcher und andere Unebenheiten, außerdem waren die alten Straßen viel schmaler und kurviger.

Mein Vater Hans-Dieter Schädlich (1927 - 2016) im Alter von etwa 40 Jahren in Goslar. Er soll in seinem Beruf als Lehrer (Oberstudienrat) für Musik und Deutsch recht beliebt gewesen sein.

Uns Kindern wurde in Vaters innen immer nach Benzin stinkenden 1962er Volkswagen „Käfer“ ziemlich regelmäßig speiübel und die Serpentinen kurz vor Wieda waren uns besonders wohl bekannt. Zum Glück gibt es in der letzten einen Parkplatz, den wir allerdings mitunter sehr zügig anfahren mußten.
Vice versa funktionierte das allerdings auch hin und wieder. Ich erinnere mich insbesondere an eine Rückreise nach Goslar, diesmal in Begleitung meiner beiden Großeltern. Ausgerechnet an diesem Tag hatte Opas Opel Rekord in der Autowerkstatt bleiben müssen, aber er konnte sich den Wagen vom Nachbarn ausleihen. Das war ein Ford P2, auch „Barocktaunus“ genannt – ein sehr amerikanisch aussehendes Modell, das eine durchgehende Vordersitzbank hatte. Ich durfte mit vorne sitzen, zwischen Omi und Opa, was sich allerdings als strategisch sehr ungünstig erweisen sollte. In ebenfalls sehr amerikanischem Stil war das Auto nämlich auch sehr weich gefedert und da konnte man bei der Schaukelei auf den kurvenreichen Sträßchen über den Harz mit all den Schlaglöchern leicht seekrank werden. Ein paar hundert Meter vor unserer Wohnung im Eckhaus der Goslarer Peterstraße war es dann so weit: mein Alarm kam wohl spät, meine Omi rechts neben mir kam nicht rechtzeitig aus dem Auto und ich reiherte quasi im Strahl das gesamte chromverzierte Armaturenbrett voll. Selbst der Gangwahlhebel an der Lenksäule war in Mitleidenschaft gezogen. Ein schreckliches Erlebnis, an das ich mich sehr genau erinnere. Mit allzu vielen Details. Auch dem, daß ausgerechnet mein Vater am meisten geschimpft hat, typisch. Wie meine Großeltern zusammen mit meiner Mutter die Reinigung des Wageninneren überstanden haben, mag ich mir garnicht vorstellen. Aber sie haben es mir verziehen.

Wenn ich an meinen Großvater denke, sehe ich ihn in diesem Haus abends im Wohnzimmer an seiner alten Schreibmaschine sitzen und geduldig darauf herumhacken, die Brille vorn auf der Nasenspitze. Dann war er wohl innerlich oft wieder in „Benneckenschteine“. Leider verstarb er bereits, als ich dreizehn Jahre alt war. Heutzutage bin ich ungefähr im gleichen Alter, wie er es damals war, tue nicht selten ungefähr dasselbe und würde sicherlich auch ein wenig ähnlich aussehen – wenn ich nicht doch eher nach meiner Großmutter sowie insbesondere meiner Mutter geraten wäre, zumindest äußerlich. Dafür sieht mein Bruder ihm sehr ähnlich.
Eine Erinnerung habe ich noch: mein Großvater hatte wohl hin und wieder einmal Besuch aus Benneckenstein. Älteren Leuten wurden ja mitunter, wenn auch selten genug, Besuchsreisen aus der DDR in die Bundesreplik genehmigt. Ich war noch ziemlich klein und spielte mit einem Auto draußen vor der Bank, auf dem die drei alten Opas saßen – meiner saß in der Mitte. Er hatte ja noch einige Brüder und allerhand sonstige Familie in Benneckenstein, von denen ich natürlich keinen kannte. Ganz genau erinnere mich jedenfalls, daß ich vor allem kein Wort von dem verstanden habe, was die da miteinander sprachen … Benneckenschteinisch eben.
Eine kleine Auswahl seiner „Jeschichten“ habe ich hier veröffentlicht – siehe ⇒diesen Link zu „Jeschichten uht Benneckenschteine“).
Dieses kleine Denkmal möchte ich ihm hier setzen.

Vor einigen Jahren war ich nach sehr langer Zeit wieder in Sachsa und habe beide Häuser noch einmal aufgesucht. Ich ging von einem zum anderen Haus, stand jeweils eine Weile vorm Zaun und habe gespürt, wie viele Erinnerungen ich habe. Es war deshalb schmerzlich, zu sehen, daß an Häusern und Gärten bereits vieles verändert worden war – leider nichts davon zum Guten. Das Fachwerkhaus in der Waldstraße, in dem mein Vater aufgewachsen ist, war ja sowieso längst verkauft, aber später wurde der riesengroße Garten meiner Oma geteilt und irgendein Holzkopf hat einen außerordentlich affigen Neubau vornedran gesetzt. Am anderen, vormals hübschen Haus in der Brandstraße ist an der Vorderseite scheußlich geschmacklos herumgebaut worden und es sieht irgendwie tot aus. Ich glaube, der Geist, der einmal darin war, ist ausgewandert. Vielleicht nach Amerika? Die alten Bäume im Garten sind größtenteils gefällt – gut, daß mein Opa das nicht mehr sehen mußte. Nur der alte eiserne Gartenzaun um das Grundstück steht noch. Er hat an der Straßenseite eine Tür und wenn die ins Schloss fällt, ist der helle, irgendwie klickernde Klang noch immer derselbe. Unverkennbar …