Fahrräder und andere Gefährte(-n)

Mein zweites Vehikel war ein rotes Fahrrad. Das bekam ich zu meinem vierten Geburtstag (1961) – ein Jahr, bevor ich in die Schule kam. Es hatte an der Hinterachse rechts- und linksseitig je ein zusätzliches kleines Stützrädchen, die ich nach der Erzählung meiner Eltern gleich noch am selben Tag abgebaut haben wollte. Ich bin sicher, daß meine bis heute anhaltende Leidenschaft für das Radfahren und sonstiges Zweiradfahren damals begann.
Ich war also wieder ein Stückchen gewachsen und das Fahrrad gab mir eine nächste Stufe an Mobilität, die meine Freiheit und Autonomie aufs Neue mitwachsen ließ. Mit dem Laufenlernen hatte es begonnen, mit den drei Rädern war eine neue Stufe erreicht und jetzt hatte ich also ein Fahrrad – damit war ich schon beinahe groß! Natürlich hat es noch eine Weile gedauert, bis ich das alles überhaupt einmal bewußt wahrnehmen konnte, aber Gründe und Anlässe, mein Freiheitsbedürfnis weiter zu entwickeln, ließen nicht auf sich warten.

Auf dem Photo bin ich samt Fahrrad mit meiner meiner Mutter und meinem zu der Zeit etwa ein Jährchen alten Bruder Bernhard im Kinderwagen zu sehen (mein Vater war natürlich der Photograph). Das muß demnach also im Jahr 1962 gewesen sein; meine Mutter rückt gerade ihre recht zeitgemäße Schmetterlingsbrille zurecht – insofern ein wenig günstiger Moment für die obendrein etwas unscharfe Aufnahme. An unserem Aufzug und meinem Eis ist zu sehen, daß dies hier ein typischer Sonntagsspaziergang gewesen sein muß. An diese Eissorte erinnere ich mich natürlich genau: ein „Capri“. Es war ein mit Orangen-Fruchteis überzogens Vanille-Eis. Mein Faible für „Apfelsine“ war ja bereits angelegt (wie in vorigen Texten bereits erwähnt).
Wie zu sehen ist, habe ich außer der wahrscheinlich vom Vater geliehenen Sonnenbrille eine Schirmmütze auf: ein Kleidungsstück, das damals noch nichts mit dieser zwanghaften US-amerikanischen Baseballkappen-Mode zu tun hatte. Eher schon war die Lederhose im bayrischen Stil für Kinder eine flächendeckende Mode – wohl vor allem, weil die Hosen ja auch so schön haltbar waren. Und, ja, kurz waren – also keine Löcher an den Knien bekommen konnten. Die Löcher in unseren Knien sind ja von selber zugeheilt.

Sonntagsspaziergang der Familie in Goslar 1963.

Das entsprechend größere Exemplar von Lederhose, das ich später – mit etwa neun oder zehn Jahren noch bekam, mußte ich zu meinem Leidwesen aus dem ewigen Haltbarkeits-Grund noch bis etwa zu meinem dreizehnten Lebensjahr tragen.

Mit der Lederhose fühlte ich mich schrecklich. Zu meiner seinerzeitigen Neigung, etwas pummelig zu werden, paßte dieses Hemd nicht gerade besonders gut. Ich muß hier wohl mindestens 13 Jahre alt gewesen sein ...

Das Bild hier ist aus der späteren Lederhosenzeit. Man sieht natürlich nicht, daß ich eigentlich ganz anders aussehen wollte (was in dem Alter ja eine ziemliche Rolle spielt) und sie aufrichtig gehaßt habe, die Hose. Mein Vater war zu Hause recht konservativ eingestellt und konnte, von Ausnahmen abgesehen, leider auch geizig sein. Die von mir heiß gewünschten Bluejeans hießen bei ihm auch noch zu Anfang der 1970er Jahre „Nietenhosen“ und waren noch immer klar mit „Halbstarken“ und „Pilzköpfen“ assoziiert, also nicht salonfähig. Daher mußte man sie eben auch nicht kaufen – und die Lederhose war eben leider, leider noch lange nicht aufgetragen, das verdammte Mistding … Genug davon.

Zurück zum Fahrrad: es hatte mit dem Gepäckträger eine weitere Neuerung im Vergleich mit meinen vorhergehenden Gefährten. Aber der war nicht etwa nur für Gepäck da – das Fahrrad hatte damit einen wenn auch nur recht provisorischen Beifahrersitz: mein Brüderchen war, wie das Photo eindrucksvoll illustriert, mein erster Soziusfahrer.

Hier der Beweis: mein erster Soziusfahrer war mein Brüderchen Bernhard. Er dürfte hier gerade mal 2 Jahre alt gewesen sein, ich demnach 6 Jahre (1963 in Goslar) So sahen übrigens die "Anlagen" oben an der Beekstraße einmal aus. Heute sind sie komplett verwahrlost....

Ansonsten habe ich das Fahrrad, wenn ich mich draußen mit anderen Kindern zum Spielen traf, eher selten mitgenommen – wir hatten meist keine Fahrräder dabei, weil sie uns beim Spielen hinderlich gewesen wären – bin aber trotzdem oft auch „einfach so“ damit unterwegs gewesen. Auch durfte ich damit morgens das kurze Stück die Straße hinunter zur Bäckerei Wietfeld am Frankenberger Plan fahren und Brötchen holen – eine Aufgabe, die ich als ehrenvoll empfand und auf die ich ein bißchen stolz war. Auch wenn es nur ein paar Meter zu fahren war … Ein normales Brötchen kostete 5 Pfennige und die mit Mohn oder Kümmel mit Salz 6 Pfennige. Zum Vergleich: ein durchschnittlicher Monatsverdienst lag zu Anfang der 1960er Jahre bei etwa 500 D-Mark. Mein Ehrenamt, frühmorgens mit dem Fahrrad Brötchen zu holen, ging noch lange weiter, auch als ich schon in der Schule war. Meine Eltern haben sich wohl kaum Sorgen gemacht – damals fuhren ja kaum Autos und wir Kinder spielten in den Straßen.

Im Winter gab es für uns noch andere »Fahrzeuge« – nämlich Skier und natürlich den Rodelschlitten. Ich bin, wie schon anderswo erwähnt, in Goslar am Harz aufgewachsen; unsereins war also im Harz und Vorharzgebiet wie selbstverständlich bereits als Kind auf Skiern gestanden und wir waren in der Regel auch recht geschickte Fahrer. Den »Stemmbogen« hatten wir uns schnell irgendwo abgeguckt und im Kurvenfahren etc. waren wir schon kleine Meister.

Sicher und schnell auf Skiern, auch schon mit fünf Jahren.

Auf dem Bild sehe ich so schnell aus, wie ich bestimmt auch war. Ich war mit den Skiern recht vertraut und unerschrocken; hatte es gern, richtig schnell zu fahren, wo immer es möglich war. Meine Eltern erzählten, daß mir des Öfteren irgendwelche Leute verwundert hinterhergeguckt hätten. Meine Kumpels fuhren übrigens ungefähr genauso. Wahrscheinlich machten sich die Erwachsenen Sorgen, aber es ging immer alles gut. Meine Knochen blieben heil und die Sprunggelenke verstaucht habe ich mir immer nur im Sommer, bei Wanderungen.

Freilich gingen wir zur Schule in Goslar zu Fuß oder fuhren mit dem Bus. Auf Skiern waren wir nur in der Freizeit unterwegs und oben im Harz haben die Berge so zwischen 600 und 1.100 Höhenmeter. Also nicht so wie in den Alpen. Aber unsere Eltern haben oft schöne und lange Skiwanderungen durch den tiefverschneiten Harz mit uns Kindern unternommen. Wir sind morgens mitsamt Skiern vom Bahnhof mit dem Bus z. B. nach Hahnenklee hinaufgefahren und abends mit dem Bus halt wieder retour.

Skiausflug in den Oberharz mit der Sonne im glitzernden Neuschnee.

Ich vergesse niemals das abermillionenfache Glitzern des frischen Schnees in der Sonne auf tiefverschneiten Tannen und Waldlichtungen, menschenleer und in vollendeter Stille.

Wir waren es gewohnt, daß der Winter im November begann und gegen Ende Februar allmählich endete. Das alles sieht man so heutzutage kaum noch, denn die Winter sind viel kürzer und milder geworden. Das heißt: es liegt im Durchschnitt deutlich weniger Schnee, der obendrein nur recht kurze Zeit liegenbleibt. Dafür ist beim geringsten Schneefall sofort alles überlaufen. Besonders an Wochenenden strömen Scharen von Leuten in Autos aus ganz Nord und Ostdeutschland herbei, streiten sich um Parkplätze, parken schließlich alles zu und es gibt Skilifte auf jeden Misthaufen hinauf. Die Wiesen sind zermatscht und man macht sich schmutzig beim Hinfallen. Damit der Schnee nicht so braun aussieht, wird aus Schneekanonen hinterhergeschossen. Warum es den Volksmassen gefällt, unter solchen Bedingungen für ein bißchen Schlittenfahren von Berlin und Bremen aus für einen Nachmittag in den Harz zu fahren, ist mir komplett schleierhaft.
Ich glaube jedenfalls, daß alle, die so aufgewachsen sind wie ich, den Schnee und den Winter lieben – und mittlerweile vermissen, denn wenn man aus diesem Holz geschnitzt ist, kann sich an »grünen Weihnachten« bei dem Klimawandel geschuldeten 15 Grad plus schwerlich wohl fühlen.
Zur Winterperiode im Vorharz paßt irgendwie auch das Bild von meiner Einschulung 1963. Schuljahreswechsel waren zu der Zeit noch an Ostern. Demnach war hier das Datum der 22. April 63 (das habe ich in irgendeinem Kalender im Internet nachgeschaut). Ja, klar, ich weiß noch, daß ich kurz vor meinem sechsten Geburtstag eingeschult worden war.

Erster Schultag am 22. April 1963 - es lag noch einiger Schnee, auch im Innenhof des Hauses Peterstraße 12, in dem wir von 1958 bis 1965 wohnten.

Es liegt ja tatsächlich noch allerhand Schnee da im Hof in der Goslarer Peterstraße 12. Das war aber auch in der damaligen Zeit und für Goslarer Witterungsverhältnisse ungewöhnlich. Zwar ist es offenbar auch Tauwetter – was man auch daran sehen kann, daß der Schnee allmählich schmutzig geworden war. Normalerweise hat sich das Tauwetter damals um Ende Februar/Anfang März eingestellt, aber in dem Jahr ist der Schnee offenbar besonders lang liegengeblieben.
Gerade im Moment des Hinschreibens kommt mir die undeutliche Erinnerung, daß ich auch deswegen noch eben zum Photomachen in den Hof geschickt worden bin, damit dokumentiert werden konnte, daß eben an Ostern 1963 – spät im April – noch so viel Schnee lag.
Das erklärt auch, daß die Schultüte auf diesem Bild nicht dabei ist: das hier war nachmittags und die Schultüte hatte ich ja schon mittags nach dem ersten Schultag auspacken dürfen. Da waren auch schon die notwendigen Photos gemacht worden. Nun war die Schultüte leer und ich hatte keine Lust mehr, schon wieder damit zu posieren. Jetzt war ich schon ein richtiger Schüler!
Ja, anfangs hatte mir die Schule noch sehr viel Freude gemacht. Ich konnte alles gut, lernte durch eine Scharlach-Quarantäne früh lesen und wurde bald zu einem kleinen Meister im Kopfrechnen. Meine mit Abstand schlechteste Zensur – eine vier – hatte ich immer in „Handschrift“. Das wurde damals noch zensiert – unglaublich, nicht? Die Freude an der Schule hat sich später peu à peu gründlich ins Gegenteil verkehrt. So ziemlich als Einziges gelobt wurde hin und wieder ausgerechnet meine Handschrift – die sich völlig von selbst entwickelt hatte. Es hat noch ziemlich lange gedauert, bis ich mich irgendwann im ersten Halbjahr der 12. Klasse entschließen konnte, die Schule endlich zu verlassen. Ich wollte Musik studieren und hatte mitbekommen, daß man unter Umständen bereits ab 16 Jahren und ohne Abitur beginnen konnte. Eben das habe ich dann getan, wenn auch erst nach einigen Umwegen und Vorbereitungen.


Ein RICHTIGES Fahrrad!

Mit zehn oder elf Jahren bekam ich ein rotes »Kalkhoff«-Fahrrad, das fortan mein alltägliches Gefährt für Fahrten zur Schule und zu Freunden wurde. Es hatte 26-Zoll-Räder, einen nach unten gebogenen Rennlenker und sogar eine Dreigang-Nabenschaltung. Außerdem später sogar noch einen Tacho!
Wie ich aus einem belauschten Gespräch zwischen meinem Vater und einem Nachbarn erfuhr, hatte es an die 200 Mark gekostet – »ziemlich viel für so´n bißchen Stahlrohr«, hörte ich meinen Vater damals sagen. Er konnte in der Tat, wie ich es später nannte, „Anfälle von Großzügigkeit erleiden“. Dies war wirklich ein großes Geburtstagsgeschenk. Es war ziemlich viel Geld für damalige (Kaufkraft-)Verhältnisse. Das Fahrrad war eben noch unverfälschtes „Made In Germany“ und bis zur unseligen Globalisierung war es noch weit…
Es bedeutete eine ganz neue Freiheit, denn mit einem so schnellen Fahrrad mit einer Gangschaltung konnte man ganz andere Strecken zurücklegen. Ich denke, wir haben außer im Winter nicht viele Busfahrkarten gebraucht. So kam vielleicht wieder ein wenig vom hohen Preis für das „Stahlrohr“ zu meinen Eltern zurück. Jedenfalls sind wir bei so ziemlich jedem Wetter gefahren und im Harzvorland ist es naturgemäß oft windig und reich an Niederschlägen.
Mein um vier Jahre jüngerer Bruder Bernhard war ein besonders sportlicher Radfahrer geworden. Vielleicht hat ihn der Rennlenker von meinem Fahrrad inspiriert? Er hat dann späterhin mit einem Kumpel regelmäßige richtig weite Touren gemacht – mitunter ganz über den Harz und zurück, was mit den ganzen Bergen locker 130 Kilometernoder sogar noch mehr entspricht. Das muß irgendwann so über die 1980er Jahre gewesen sein. Er und sein Freund hatten dann schon richtige Rennräder mit schmalen Felgen und natürlich entsprechenden Lenkern – aber sie haben sich dennoch keinem Verein anschließen mögen, wie er mir einmal erzählt hat.

Mein Bruder Bernhard und ein Freund auf ihren Rennrädern, ca. 1975

Hier sind die beiden Rennfahrer. Der Vordere von den Beiden ist mein Brüderchen Bernhard und der Andere heißt, glaube ich, Lars Riebeck. Sie starten gerade vor unserem Haus zu einer neuen Tour. Außer Turnschuhen (Fußballschuhen?) hatten sie praktisch keine weitere Ausrüstung. Doch – der Kumpel ist etwas besser organisiert: er hat eine Luftpunpe und immerhin eine Wasserflasche.
Das Bild stammt so etwa von 1975 – wie man sicherlich auch an der Rotstichigkeit erkennen kann.

Für mich wurde es höchste Zeit für ein motorisiertes Zweirad!

Das nächste Kapitel ist noch in Arbeit.